„Der digitale Bereich hat die Medien komplett durcheinandergewirbelt.“
Kulturjournalist Stephan Hilpold im Interview

Stephan Hilpold ist Kulturjournalist und leitete von 2018 bis 2023 das Kultur-Ressort bei der Tageszeitung DER STANDARD. Im Interview erzählt er von der Sonderstellung der Kultur als Ressort, der verstärkten Meinungsvielfalt durch die Digitalisierung und über den vermeintlichen Tod des Kulturjournalismus.

Cult Journal Digital: Immer wieder wird hervorgehoben, dass Kulturjournalist:innen eine gewisse Sonderstellung haben. Wie ist Ihre Wahrnehmung dazu? Wodurch unterscheidet sich der Kulturjournalismus von anderen Ressorts?

Hilpold: In der Politik oder auch im Wirtschaftsbereich, vor allem auch im chronikalen Bereich ist man sehr viel spontaner. Im Kulturjournalismus gibt es einen klaren Terminplan. Kulturjournalisten sind sehr daran gewohnt, dass die Premieren-Kalender feststehen, dass man genau weiß, wann die Ausstellungen eröffnet, dass man das irgendwie sehr gut planen kann. Aber in den letzten Jahren ist es gerade durch den digitalen Bereich, durch den digitalen Markt, extrem aufgebrochen worden. Da spielt das Aktuelle eine viel stärkere Rolle als es früher gespielt hat. Das ist eine Tendenz, die sich in den letzten Jahren immer stärker abgezeichnet hat. Aber das ist nur einer der Unterschiede im Vergleich zu anderen Bereichen des Journalismus. Der Kulturjournalismus ist ein Journalismus, der so ein bisschen zwischen der Berichterstattungspflicht und auch dem, was ich jetzt mal vielleicht mit dem Wort Feuilleton bezeichne, steht. Das Feuilleton bezeichnet ja, ist ja wirklich ein sehr besonderer Teil der Zeitung von Medien, und da sind die Regeln ja dann doch nochmal ein bisschen andere.

Cult Journal Digital: Sie haben gerade angesprochen, dass die Aktualität im digitalen Medienumfeld ein immer wichtigerer Faktor ist. Bemerken Sie das häufig in Ihrem Arbeitsalltag?

Hilpold: Ja, absolut. Der digitale Bereich hat die Medien komplett durcheinandergewirbelt, aufgeschreckt. Auch durchaus in einem positiven Sinne, weil man natürlich auch gewisse Routinen hinterfragen musste, sich gewisse neue Abläufe aneignen musste. Durch die Digitalisierung ist vor allem der Kulturjournalismus auch sehr stark hinterfragt worden. Was waren in der Vergangenheit Kulturjournalist:innen? Die waren Gatekeeper. Also worüber berichtet man? Wie berichtet man? Man gibt Empfehlungen über die Art und Weise, wie man berichtet, an die Leser:innen ab. Man hat wirklich eine sehr wichtige Funktion innegehabt im Kulturbereich. Journalisten waren unendlich wichtig, manchmal sicher auch viel zu wichtig. Und das hat die Digitalisierung einfach auf den Kopf gestellt. Jeder:jede kann heute journalistisch tätig sein. Also diese Funktion des exklusiven Gatekeepers, die ist durcheinandergeraten. Das hat das Selbstverständnis von Kulturjournalisten ziemlich durcheinandergebracht, sie auch maßgeblich in ihrer Eitelkeit erwischt. Aber man ist dadurch auch in eine produktive Konkurrenz mit anderen Meinungen getreten. Also die ganze Meinungsvielfalt, die ganze Berichterstattung ist sehr viel bunter, vielfältiger geworden.

Cult Journal Digital: Sie haben gerade das Publikum und die verstärkte Meinungsvielfalt erwähnt. Wird das Publikum aus Ihrer Sicht durch die Digitalisierung verstärkt in kulturjournalistische Prozesse mit einbezogen?

Hilpold: Ja, ich glaube, der Austausch mit Leser:innen, User:innen ist sehr viel stärker geworden, weil man auch den Service-Gedanken sehr viel ernster nimmt, als das vielleicht früher der Fall war. Als ich angefangen habe im Kulturjournalismus, das war Ende der 90er-Jahre, war das so, dass die Leser:innen nicht immer als diejenigen angesehen wurden, für die man das Ganze macht. Sondern die wurden durchaus auch als so ein bisschen das „lästige Element“ in diesem ganzen Bereich angesehen, was natürlich ein Wahnsinn ist, auch skurril ist, wenn man bedenkt, für wen schreibt man sonst? Aber es war doch auch das Selbstverständnis vieler Kulturjournalist:innen, dass man vielleicht stärker oft für die Kolleg:innen schreibt, um sich auch in einem gewissen Licht darzustellen und besonders zu glänzen in diesem Bereich, der sehr stark auch von Eitelkeiten durchzogen ist. Gerade in der feuilletonistischen Schreibe ist ja auch die Art und Weise, wie man schreibt, der Pointenreichtum, sehr gefragt. Es ist ein Feld, wie geschaffen auch für Pfaue, für Menschen, die natürlich auch gerne selbst im Rampenlicht stehen. Und das ist natürlich jetzt plötzlich etwas anders akzentuiert. Es ist sehr viel stärker die Relevanz des eigenen Tuns in Frage gestellt.

Cult Journal Digital: Welche sind für Sie die größten Herausforderungen, die den Kulturjournalismus durch die Digitalisierung betreffen?

Hilpold: Ich glaube, die Herausforderungen bestehen wirklich auf verschiedenen Ebenen. Da ist natürlich der Zeitdruck. Da ist die Strukturänderung des gesamten Felds, in dem jetzt einfach sehr viel mehr Akteure mitspielen. Aber die Haupt-Herausforderung ist, glaube ich, dass der Journalismus in der Form, wie wir ihn kennen, in den letzten Jahrzehnten kannten, in seinen ökonomischen Grundfesten derzeit sehr stark in Frage gestellt wird. Zeitungen oder Medien können sich schlichtweg nicht mehr finanzieren durch die herkömmlichen Distributionsmodelle, also der Kostendruck wird immer stärker. Die meisten Zeitungen, die es heute gibt, die wird es in zehn, 15, 20 Jahren nicht mehr geben. Gleichzeitig gibt es kein anderes ökonomisches Modell, das wirklich funktioniert, in Österreich funktioniert. In der digitalen Welt ist es wahnsinnig schwierig, Modelle, finanzielle Modelle aufzubauen, die einen von Qualität getriebenen Journalismus sicherstellen. Die Modelle, die momentan auf dem Markt sind, funktionieren für manche ausgewählte Zeitungen, vor allem internationale Zeitungen, wie eine New York Times. Auch für manche deutsche Zeitungen. In Österreich ist es aber aufgrund der Kleinheit des Marktes wirklich schwierig, hier zu überleben. Und da sind wir momentan an einem wirklich sehr kritischen Punkt, wo sich auch zeigen wird, schaffen die Medien diesen Strukturwandel, der in dieser Branche seit einigen Zeiten vor sich geht. Und können Sie ein Modell entwickeln, dass man auch weiterhin Journalismus auf einem finanziell ertragreichen Boden macht, oder wird dieses gesamte Feld in Frage gestellt? Und da sind wir jetzt momentan gerade in diesem Prozess, wo diese Fragen auf eine Art und Weise gestellt werden, dass einem manchmal angst und bange wird.

Cult Journal Digital: Sehen Sie neben diesen Herausforderungen auch positive Aspekte, die sich durch die Digitalisierung ergeben?

Hilpold: Es gibt viele positive Aspekte. Einige haben wir bereits angesprochen, zum Beispiel dieses „Raus aus dem Elfenbeinturm“, das sehe ich in erster Linie als sehr positiv an. Eine Selbst-Hinterfragung ist immer eine gute Sache, weil man sich natürlich sehr viel stärker auf seine Stärken besinnt und auch womögliche Schwächen ausmerzt. Durch die Demokratisierung nehmen auch sehr viel mehr Menschen am kulturellen Diskurs teil, die Meinungsvielfalt ist bunter geworden. Es sind jetzt auch Akteure, die vielleicht vor 30, 40, 50 Jahren schlichtweg nicht gehört worden wären, ja. Die haben jetzt die Möglichkeit, auch gehört zu werden. Ob das gewisse Minderheiten auch sind. Also es haben sich sehr viele Nischen gebildet, die ein sehr interessantes Angebot auch haben.

Cult Journal Digital: Der Kulturjournalismus umfasst ja sehr viele verschiedene Bereiche, wie Theater, Musik oder Literatur. Können Sie beobachten, ob sich speziell im Musikjournalismus etwas durch die Digitalisierung verändert hat?

Hilpold: Im Pop, also im U-Bereich, da hat sich ganz, ganz Vieles verändert. Das ist ein Bereich, den die Digitalisierung knallhart erwischt hat. Der ist mittlerweile fast im Bereich der Bedeutungslosigkeit angekommen. Man muss sich ja nur umschauen. Gewisse Musikzeitschriften zum Beispiel, die gibt es heute nicht mehr, auch international. Wer liest sich jetzt wirklich noch eine Kritik eines neuen Albums durch, bevor er es kauft?

Also ich beobachte, dass das, was im U-Bereich so gar nicht mehr relevant ist, ob man jetzt irgendwie dieses neue Album bespricht oder nicht, das ist im Klassik-Bereich sehr wohl relevant. Da funktioniert auch diese Gatekeeper-Funktion noch teilweise. Im U-Bereich funktioniert sie gar nicht oder ist sie einfach gar nicht mehr vorhanden.

Cult Journal Digital: Ist das im Musikjournalismus auch ein Thema, dass man online Audio- und Videofiles, einbinden kann, was ja früher nicht möglich war? Wird das gemacht? Hat das einen Einfluss?

Hilpold: Das wird gemacht, vor allem im Video-Bereich wird das sehr stark gemacht. Das ist State of the Art würde ich jetzt mal sagen. Man nutzt natürlich als Medium alle Möglichkeiten, die einem heute geboten werden, die auch durch die Digitalisierung möglich geworden sind, die es jetzt im Print, im herkömmlichen Print, nicht gab.

Cult Journal Digital: Wissenschaftler:innen haben erkannt, dass es in den USA immer weniger Musikjournalist:innen gibt. Die Medienhäuser haben kein Budget, um Personal für spezifische Kulturbereiche, wie die Musik, einzustellen. Deshalb sollen Kulturjournalist:innen möglichst alle Sub-Genres abdecken. Können Sie so etwas hier in Österreich in der Branche auch beobachten?

Hilpold: Ja, das kann man sehr klar beobachten. Die Redaktionen werden immer stärker ausgedünnt. Man muss sich nur vergegenwärtigen, wie viele Bereiche es in der Kultur gibt. Das sind eine ganze Menge, von bildender Kunst, über Musik und Theater, bis hin zu Film. Wenn man all diese Bereiche abdecken möchte, dann kommt man recht schnell auf zehn Leute, mindestens. Das leisten sich immer weniger Redaktionen, können sich immer weniger Redaktionen leisten. Also schreibt die Kunstkritikerin auch plötzlich über Theater, obwohl sie vielleicht nur zehn Mal in ihrem Leben im Theater war. Das kann man jetzt einerseits irgendwie als positiv beurteilen, um auch einen frischen Blick auf Dinge zu werfen. Aber dann muss man schon auch ein großes Aber hinzufügen. Es ist nun mal so, dass ich als Leserin, als Leser schon auch möchte, dass ich einen Mehrwert von einer Kritik bekomme, also dass hier jemand spricht, der:die eine besondere Expertise aufweist, vieles gesehen hat, sich in dem Bereich im Besonderen auskennt, Zitate erkennt, Verbindungslinien ziehen kann, das analytische Besteck gewissermaßen hat, um Kunstwerke in ihrer gesamten Komplexität analysieren zu können.

Cult Journal Digital: In den letzten Jahren hat sich eine heftige Diskussion um die Relevanz des Kulturjournalismus entwickelt. Viele sprechen sogar vom „Tod des Kulturjournalismus“ durch die Digitalisierung. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Hilpold: Ist er tot, der Kulturjournalismus? Das sind immer so ein bisschen kulturjournalistische Betrachtungsweisen. Gerade Kulturjournalisten schreiben doch recht gerne, recht schnell „irgendetwas ist jetzt schon tot“, „wird bald sterben“, „steht kurz davor, bald begraben zu werden“. Es gibt auch einen gewissen Fatalismus in dieser Branche. Das würde ich gerne etwas unaufgeregter sehen und sagen. Der Kulturjournalismus ist unter massiven Druck geraten. Also das stimmt absolut. Aber er ist einer Veränderung unterworfen, bei der man noch nicht weiß, in welche Richtung es genau geht. Ich glaube, die Zeiten des Gatekeepertums, die große goldene Zeit des Feuilletons – die es ja in dieser Form in Österreich schon seit dem Zweiten Weltkrieg eigentlich nie mehr so wirklich gegeben hat – ist früher anzusiedeln. Diese Zeit ist vorbei und die wird in dieser Form auch nicht mehr wiederkommen. Aber vielleicht kommen andere Formate, weil das Reden über Kunst und Kultur ist wichtig, die Kommunikation ist wichtig. Also wir leben in einem Zeitalter, das von Kommunikation in all seinen Ausprägungen definiert wird. Warum sollte da die Kultur eine Ausnahme machen?

🛈 Das Interview wurde am Universitätsgelände der Universität für angewandte Kunst Wien aufgezeichnet, wo Hilpold im Sommersemester 2024 Perspektiven der Medienarbeit in Kunst und Kultur lehrte.


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In den letzten Jahren wird vermehrt von einer Krise und sogar vom Tod des Kulturjournalismus gesprochen. Hat das Kultur-Ressort durch die Digitalisierung seine Relevanz verloren?