Changed for good?
Wie sich der Kulturjournalismus durch die Digitalisierung verändert

„Manchmal würde ich die Geschichten, die ich an andere Redakteurinnen und Redakteure vergebe, gerne selber machen. Aber es geht sich zeitlich einfach nicht aus.“ Veronika Berger ist ein bisschen wehmütig. Sie ist Kulturchefin beim ORF Niederösterreich und sitzt gerade in einem Schnittraum. Neben ihr sind die Überreste eines langen Drehtags am Schreibtisch verstreut: Handy, Sonnenbrille, Taschentücher, Kosmetiktasche, Mineralwasser mit Fruchtgeschmack und ein Päckchen Buttermilch. Konzentriert klickt sie sich durch verschiedene Video-Clips.

Heute schneidet Veronika keinen Beitrag, sondern Moderationen für eine Sendung zum Theaterfest Niederösterreich. Sie kann diesen Sommer kaum selbst an Beiträgen arbeiten, weil ihr Dienstplan voll mit Moderationen ist. Deswegen teilt Veronika als Kulturchefin andere Redakteurinnen und Redakteure für Kulturgeschichten ein – so kann sie selbst während ihrer Dienste moderieren. Anders geht es sich mit den Ressourcen in ihrer Redaktion einfach nicht aus.

Ressourcenprobleme gibt es aber nicht nur in Veronikas Redaktion. Es ist eine Herausforderung für den gesamten Kulturjournalismus. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass Kulturredaktionen immer kleiner werden. Besonders durch die Digitalisierung haben sie mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Kulturjournalist Stephan Hilpold kennt die Situation zum Beispiel aus dem Print-Bereich.

Dass es traditionelle Medien, wie Fernsehen oder Print, durch die Digitalisierung schwerer haben, zeigt auch der Digital News Report 2023. 70% der Menschen in Österreich konsumieren Nachrichten auf digitalen Kanälen, während die Nutzer:innen-Zahlen im Print- und TV-Bereich immer weiter sinken. Seit 2015 hat sich die Zahl der Österreicher:innen, die Zeitungen noch als Nachrichten-Quelle nutzen, fast halbiert. Diese Entwicklungen treffen den Kulturjournalismus besonders hart. Denn die Kultur gilt als Themenbereich, der im Web nicht sehr viele Klicks einbringt, erklärt Berger.

Es wird deutlich, dass es der Kulturjournalismus im digitalen Medienumfeld nicht leicht hat. Besonders betroffen sind auch Sub-Genres der Kultur, wie beispielsweise der Musikjournalismus. Heutzutage fehlt in den meisten Redaktionen das Budget, um Musikjournalist:innen anzustellen, die sich ausschließlich mit dem Genre Musik beschäftigen. „Diesen Luxus haben wir nicht. Wer bei uns Kultur macht, macht die ganze Bandbreite“, sagt Berger. Das bestätigt auch die Wissenschaft. Studien zeigen, dass Kulturjournalist:innen immer generalistischer arbeiten und viele verschiedene Kultur-Sparten abdecken müssen. Die Zahl der Musikjournalist:innen ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Diese Entwicklung beobachtet auch Hilpold in der Praxis: „Man muss sich nur vergegenwärtigen, wie viele Bereiche es in der Kultur gibt. Von bildender Kunst, über Musik und Theater, bis hin zu Film. Und da haben wir jetzt die ganzen Debatten, Diskurse, die vor allem sehr stark im Feuilleton abgehandelt werden, noch gar nicht gestreift. Wenn man all diese Bereiche abdecken möchte, dann kommt man recht schnell auf zehn Leute. Mindestens. Das muss man sich mal leisten.“

Eine weitere Herausforderung für den Kulturjournalismus ist auch der Zeitdruck. Im Internet muss alles schnell gehen: Kommunikation in Echtzeit, ständige Verfügbarkeit und Aktualisierbarkeit sind das A und O. Deshalb spielen aktuelle Berichte im Kulturjournalismus heutzutage eine viel größere Rolle als früher. Für aufwendige Feuilleton-Geschichten bleibt oft keine Zeit. Während dieser Aktualitätsdruck bei den klassischen Nachrichten anderer Ressorts auch schon vor der Digitalisierung spürbar war, ist der Kulturjournalismus jetzt verstärkt betroffen. Entwicklungen wie diese beobachten Hilpold und Berger häufig in der Praxis.

Neben diesen Herausforderungen gibt es aber auch positive Entwicklungen durch die Digitalisierung. Olga Kolokytha, Expertin für Kulturpolitik und Kulturmanagement, weist zum Beispiel auf eine so große Meinungsvielfalt durch die digitalen Medien hin, wie es sie zuvor nie gab. „Die Digitalisierung hat eine Demokratisierung des Kulturjournalismus erlaubt“, erklärt sie. Die verstärkte Meinungsvielfalt zeigt sich einerseits daran, dass das Publikum sich mehr einbringen kann, da es viel einfacher geworden ist, Informationen zu publizieren. Andererseits ist aber auch die Berichterstattung vielfältiger geworden.

Auch Stephan Hilpold sieht das ähnlich: „Akteure, die vielleicht vor 30, 40, 50 Jahren schlichtweg nicht gehört worden wären, haben jetzt die Möglichkeit, auch gehört zu werden.“ Er meint zum Beispiel Minderheiten, die eine Stimme bekommen, oder auch Nischen-Themen, durch die das kulturjournalistische Angebot erweitert wird.

Mit der größeren Meinungsvielfalt verändert sich aber auch die Rolle von Kulturjournalist:innen. Früher galten sie als Gatekeeper:innen, die Nachrichten selektierten und entschieden, welche Informationen publiziert werden. Durch die Digitalisierung wird diese Funktion aber immer stärker hinterfragt. Denn heutzutage können alle Menschen jederzeit Informationen im Internet veröffentlichen. Eine schnelle Story auf Instagram, ein kurzer Kommentar auf Facebook, ein Blog-Post auf der eigenen Website – Dinge, die fest im Alltag der Menschen verankert sind. Der Otto Normalverbraucher kann ganz einfach an Journalist:innen „vorbeipublizieren“. Das führt dazu, dass die Menschen mit Informationen überflutet werden. Eine Veränderung, die auch den Kulturjournalismus betrifft, wie Kolokytha, Berger und Hilpold feststellen.

Neben der vielfältigeren Berichterstattung erkennt Berger noch einen weiteren Vorteil in der Digitalisierung des Kulturjournalismus. Aus ihrer Sicht ist die Vernetzung zwischen Künstler:innen und Redaktionen einfacher geworden. Das betrifft vor allem den Austausch von Material. „Das ermöglicht beiden Seiten was. Die, die schneller mal was in eine Redaktion schicken können und Redaktionen, die sich leicht was schicken lassen können. Und da sind einfach viele Barrieren, die früher allein technischer Natur da waren, abgebaut“, erklärt Berger. Sie sieht es auch als positive Entwicklung an, dass die Recherche einfacher geworden ist – besonders für den Musikjournalismus.

Leichtere Recherche, mehr Austausch und mehr Meinungsvielfalt, aber auch mehr Konkurrenz, mehr Zeitdruck und mehr ökonomische Schwierigkeiten sind Auswirkungen der Digitalisierung auf den Kulturjournalismus in Österreich. Vor allem die drei Letztgenannten sorgen für eine heftige Diskussion um die Relevanz des Ressorts. Sowohl im wissenschaftlichen Bereich, als auch in der Praxis stellen sich Viele die Frage, ob es den Kulturjournalismus überhaupt noch braucht – in einer Zeit, in der man online immer und überall Zugriff auf Kultur hat.

Wozu Kulturkritiken lesen, wenn alle sich jederzeit selbst eine Meinung bilden können? Wozu sich auf das Urteil von Kulturjournalist:innen verlassen, wenn die Lieblingsinfluencerin eine viel nahbarere Empfehlung abgibt? Wozu auf Veranstaltungshinweise in traditionellen Medien warten, wenn der Social Media Algorithmus sowieso viel besser weiß, was für wen am interessantesten ist? Manche prognostizieren sogar den „Tod des Kulturjournalismus“. Hilpold und Berger sehen das anders.

Veronika Berger stellt sich dieser Aufgabe jeden Tag bei ihrer Arbeit. „Das ist das, worum es letzten Endes in jeder Form von Journalismus ja auch gehen muss, dass du dein Publikum vor Augen hast und nicht an denen vorbei produzierst“, erklärt sie. Mittlerweile ist es schon fast 18 Uhr. Veronika hat längst die Video-Clips aussortiert und der Cutterin erklärt, welche Parts sie für die Sendung braucht. Nach dem letzten Feinschliff ist endlich Feierabend. Die Moderationen stehen. Es bleiben nur ein paar Lücken dazwischen, in die später die Beiträge eingefügt werden. Die wird aber nicht Veronika vorbereiten, sondern ein Kollege. Sie muss ja moderieren. Veronika packt ihre Sachen zusammen und macht sich auf den Weg zum Auto. Es war ein langer Arbeitstag.
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Zuerst das Styling, dann ein Interview, gefolgt von einem Moderationen-Dreh und zuletzt noch der Schnitt – der Alltag von Kulturjournalistin Veronika Berger kann ganz schön vielfältig sein. Oft ist es aber auch klassische Planungsarbeit und Recherche. Fast immer dabei ist jedenfalls Veronikas Laptop – und damit auch die Spuren des digitalen Zeitalters.